Freitag, 19. Mai 2023

Wie macht man als Fernsehmann aus 10-jährigen Jungs begeisterte Leser?


Andreas Z. Simon ist seit über 20 Jahren Autor für Film und Fernsehen mit dem Schwerpunkt Kindermedien. Mit »Die Zukunft in meiner Hand« ist im März sein erstes Kinderbuch bei Gulliver erschienen. In diesem Artikel erzählt er von den Herausforderungen, als Fernsehautor ein Kinderbuch für Jungs zu schreiben.

Noch bevor ich lesen konnte, schenkte mir meine Großtante H.G. Wells »Die Zeitmaschine«. Sie dachte, dann hätte ich schon mal etwas, worauf ich mich freuen darf, wenn ich erst einmal lesen kann. Ganz unrecht hatte sie nicht. Zwar habe ich das Buch erst viele Jahre später gelesen, aber es hat mich sofort inspiriert, mir vorzustellen, welche Abenteuer auf jeder Seite erzählt werden könnten. So wurde ich schon früh ein Freund des Mediums Buch.  Ich liebte das Umblättern, das Gewicht des Buches und das ganze haptische Gefühl.

Als ich dann endlich lesen konnte, war ich wohl das, was man heute einen »Nerd« nennt. Statt Taucherbrille und Schwimmflossen enthielt mein Sommerurlaubsgepäck nun Bücher. Nun hatte ich neben der Haptik auch den Inhalt zu schätzen gelernt.

Wenn jetzt Lehrer:innen und/oder Eltern diesen Text lesen, kommt sicher der Gedanke auf, dass das doch ein schönes Interesse ist. Toll, wenn Kinder schon so früh so viel lesen. Das würde ich aus heutiger Sicht auch unterschreiben. Damals war es aber nicht ganz unproblematisch. Denn beim Knüpfen von sozialen Kontakten hat mir das Lesen zunächst nicht geholfen. Das hat sich bis heute nicht wirklich geändert.

 

Jungen lesen nicht gerne - warum sollten sie auch?

Stellen Sie sich vor, Sie sind 10 Jahre alt und wollen in den sozialen Medien ein paar Likes sammeln. Womit klappt das wohl am besten? Mit einem Video von einem Salto vom 10-Meter-Turm? Oder mit einem Selfie von sich mit einem Buch in der Hand? Natürlich ist Social Media nicht der einzige Parameter für die Messung von Popularität – und soll es auch nicht sein – aber dieses Beispiel illustriert die Problematik sehr gut.

Lesen ist keine publikumswirksame Aktivität. Lesen macht einen nicht zum Klassenliebling. Und während Mädchen eher ruhige Hobbys wie Lesen, Schreiben und Malen zugestanden werden, müssen Jungen vor allem gut im Sport, mutig und frech sein. Auch wenn sich das wie ein böses Klischee liest, bin ich überzeugt, dass es zumindest unbewusst auch heute noch von vielen so gesehen wird. Kein Wunder also, dass Lesen in der Freizeitgestaltung von Jungen im Grundschulalter keine allzu große Rolle spielt.

Hinzu kommt, dass Lesen mühsam ist, wenn man es noch nicht so gut kann. Der Konsum anderer Medien ist mit weniger Hürden verbunden. Zum Beispiel TikTok-Videos anschauen. Das ist einfach und man kann am nächsten Tag sogar auf dem Schulhof mitreden.

Und genau für diese schwer erreichbare Zielgruppe soll ich jetzt ein Buch schreiben.

 

Schreiben fürs Fernsehen vs. Schreiben für Kinder – eigentlich dasselbe (?)

»Die Zukunft in meiner Hand« ist mein erstes Buch. Bis dahin habe ich nur für Film und Fernsehen geschrieben – und beim Fernsehen schreibt man in erster Linie für die Redaktionen und Sender. Ich möchte zwar mit dem fertigen Film möglichst viele Kinder erreichen, aber das Ziel beim Schreiben ist zunächst, dass die Verantwortlichen verstehen, was ich bildlich und inhaltlich umsetzen möchte.  Das Publikum sieht schließlich nur das fertige Produkt und damit nur Ausschnitte aus dem zugrunde liegenden Text.

Bei einem Buch hingegen sollen die Leserinnen und Leser wirklich jedes Wort lesen und den Text nicht nur grob erfassen. Und wenn die Zielgruppe Kinder sind, die sich mit dem Lesen noch etwas schwer tun, dann ist jedes überflüssige Wort genau das: ein überflüssiges Wort. Und das ist auch schon die größte Gemeinsamkeit zwischen dem Schreiben fürs Fernsehen und dem Schreiben für Jungs im Grundschulalter. Auch Fernsehschaffende lesen nicht gerne lange Texte. Deshalb sind sie beim Fernsehen gelandet. Ich bin es also gewohnt, mich kurz zu fassen.

Seit Ende 1999 schreibe ich für das Fernsehen. Kurzfilme für »Tabaluga TiVi«, Beiträge für »Siebenstein« und Drehbücher für fast 100 Musikvideos. Daneben schreibe ich auch für meinen eigenen Podcast, die »Neurotainment Show«: mal Moderationen, mal kurze Hörspiele. In den letzten 15 Jahren war ich vor allem für die KiKA-Musiksendung »Dein Song« verantwortlich und konnte in diesem Jahr mit »t=E/x²« (ein Zeitschleifenabenteuer mit Jasmin Wagner, Mario Ganss und Götz Otto) meinen ersten Langfilm veröffentlichen. Jedes Drehbuch ist nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch und formal sehr unterschiedlich und jeweils auf das Projekt zugeschnitten.

Im dokumentarischen Bereich sind es eher Tabellen, die den geplanten Sprechertext dem geplanten Bildinhalt gegenüberstellen. Im Grunde also vor allem Listen, die stichwortartig Bilder im Kopf der Lesenden hervorrufen sollen.

So habe ich auch mit meinem Buch begonnen. Mein persönlicher erster Schritt war eine Liste, die die Ereignisse strukturierte. Da »Die Zukunft in meiner Hand« versteckt auch eine Zeitreisegeschichte erzählt, war das doppelt sinnvoll. Zu schnell verknoten sich die Zeitstränge – und spätestens beim zweiten Lesen wird klar, dass die Zeitebenen nicht zusammenpassen, wenn ich nicht ordentlich strukturiere. Und das wollte ich vermeiden. Da auch mein gerade erschienener Kinofilm eine Abhandlung über das Thema Zeit ist, war ich nun zumindest mit Zeitreisen vorbelastet, und meine Eitelkeit als »Zeitreise-Profi« verbot es mir, in diesem Genre allzu grobe inhaltliche Fehler zu fabrizieren.

Hinzu kam, dass ich Kinder erreichen wollte, die sich vielleicht mit dem Lesen etwas schwer tun, aber deshalb noch lange nicht vor einer komplexen Handlung zurückschrecken. Bei einer Zielgruppe ab 10 Jahren würde ich mit Star Wars und Marvel konkurrieren. Da darf man keine allzu einfache Kindergeschichte erzählen, die offensichtlich als uncool und vorhersehbar abgestempelt würde.

In der Geschichte geht es um den 12-jährigen Jonas, auf dessen Smartphone eine App auftaucht, die behauptet, die Zukunft vorhersagen zu können. Als er es ausprobiert, stellt er fest, dass die App das tatsächlich kann. Was wird er mit dieser fantastischen Möglichkeit anfangen?

Wenn ich nicht im dokumentarischen, sondern im fiktionalen Bereich schreibe, ist die Form nicht mehr die Liste, sondern das klassische Drehbuchformat: Kurze, schnörkellose Beschreibung der Handlung und möglichst realistische Dialoge, die die Figuren lebendig werden lassen, ohne dass es weiterer Erklärungen bedarf.

Das war auch der nächste Schritt beim Schreiben meines Buches – und die Phase, die mir am meisten Spaß gemacht hat. Da ist Bäm, der indischstämmige Freund des Protagonisten, der eher unfreiwillig komische Sportlehrer, die für Jonas unerreichbare Mitschülerin Lina und die Lehrerin, die statt eines Wachhundes eine Wachkatze hat. Sie alle wurden in dieser Phase lebendig und bekamen ihre unverwechselbaren Charaktere.

Ist das Schreiben fürs Fernsehen also dasselbe wie das Schreiben von Kinderbüchern? Ich glaube, die Antwort liegt in der Mitte. Ich würde sagen, der Fernsehmacher von heute hat sich mit meinem 10-jährigen Ich getroffen. Die beiden haben eine Schreibparty gefeiert und die Kinderfernseherfahrung des Älteren mit der Perspektive des Jüngeren kombiniert.

 

Wenige Worte – wichtige Werte

Trotz der wenigen Worte und der relativ einfachen Sprache war es mir wichtig, die Werte zu vermitteln, die ich meinem jüngeren Ich gerne mitgeben würde, wenn ich die Chance dazu hätte: Dass es sich lohnt, ab und zu die Oma zu besuchen. Dass hinter jedem Bully vor allem Unsicherheit steckt. Dass man oft am besten ankommt, wenn man nicht versucht, sich zu verstellen.

Besonders wichtig war mir aber auch ein positiver Blick in die Zukunft. Kinder erleben heute Pandemien, Krieg und Inflation – und sie erleben vor allem, wie besorgt ihre Eltern darauf reagieren. Ich persönlich glaube fest daran, dass das Leben auch heute noch lebenswert ist und dass Kinder das vermittelt bekommen müssen. Achtung Spoiler: Als Jonas am Ende des Buches seinem zukünftigen Ich begegnet, sagt dieses: »Freu dich einfach. Die Zukunft wird gut.«

Nur wenn wir an eine bessere Zukunft glauben, wird sie auch tatsächlich besser.

Bücher sind meine Freunde. Das waren sie schon als Kind – und das sind sie heute noch. Es wäre schön, wenn auch die heutige Generation von Kindern diese Erfahrung machen könnte, wie erfüllend es sein kann, ein gutes Buch zu lesen.

Deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das nicht nur eine spannende Geschichte auf humorvolle Weise erzählt, sondern auch Lust auf mehr macht – hoffentlich weit über dieses eine Buch hinaus.